«In der Schweiz leben wir Seite an Seite, ohne ausreichend miteinander zu sprechen»
Können Sie sich in wenigen Worten vorstellen und etwas über Ihren Bezug zu den arbeitsmarktnahen Eingliederungsmassnahmen erzählen?
Yves Ecoeur: Seit über 25 Jahren bin ich im Bereich der sozialen und beruflichen Integration beim Schweizerischen Arbeiterhilfswerk (SAH) tätig, wo ich Ausbildungsprogramme, Coachingangebote und Massnahmen zur arbeitsmarktnahen Eingliederung entwickelt habe. Anfang der 2000er Jahre war ich Vizepräsident von Arbeitsintegration Schweiz, nachdem ich die Akteure der sozialen und beruflichen Integration im Wallis zu einem Verband zusammengeführt hatte. Heute bin ich Direktor des SAH Waadt, wo wir jährlich insgesamt 2’500 Teilnehmende begleiten und spezifischere Programme zur arbeitsmarktnahen Eingliederung anbieten. Viele davon haben einen starken Bezug zum ökologischen Wandel.
Morgane Kuehni: Ich bin Arbeitssoziologin und seit zehn Jahren Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit und Gesundheit in Lausanne (HETSL-HES-SO). Ich engagiere mich auch als Mitglied des Kompetenznetzwerks MaTISS (Marché du travail, insertion et sécurité sociale). Meine Forschungs- und Lehrschwerpunkte befassen sich mit der Politik der Aktivierung, die im Rahmen der sozialen Sicherung in der Schweiz entwickelt wurde, insbesondere in den Bereichen Arbeitslosenversicherung, Invalidenversicherung und Sozialhilfe. Die arbeitsmarktnahe Eingliederung stellt nur einen Teil der heute entwickelten Eingliederungsmassnahmen dar. Diese ist jedoch aufgrund ihrer Nähe zum oder Überschneidungen mit dem Arbeitsmarkt besonders interessant für eine Analyse.
Was ist die Geschichte hinter der Gründung der CRIEC? Warum wurde sie ins Leben gerufen?
Yves Ecoeur: Alles begann mit der Erkenntnis, dass es wichtig ist, Eingliederungsprogramme zu entwickeln, die einen starken Bezug zu den realen Arbeitsbedingungen aufweisen. Durch Praktika in Privatunternehmen oder auch durch den Aufbau von Sozialunternehmen werden die Teilnehmenden in realitätsnahe Arbeitssituationen gebracht und erwerben berufliche Kompetenzen.
Ende der Neunzigerjahre haben verschiedene Akteure aus der Romandie gemeinsam über die Thematik der arbeitsmarktnahen Eingliederung nachgedacht. Wir gingen zu den frankophonen Treffen der Sozialwirtschaft, einmal in Belgien und einmal in Montreal. Die Notwendigkeit, sich zu organisieren, wurde dann deutlich. In diesem Zusammenhang wurde der Conseil romand d’insertion par l’économique, der Vorläufer der CRIEC, ins Leben gerufen. Im gleichen Zeitraum hatten wir vom SAH 1999 in Freiburg die erste nationale Fachtagung der Eingliederungsunternehmen organisiert. Erst vor kurzem hat CRIEC einen weiteren Schritt getan und sich Arbeitsintegration Schweiz angeschlossen, um die Zusammenarbeit über eine formelle Kommission innerhalb des Dachverbands zu institutionalisieren Dieser Zusammenschluss führt zu wertvollen Synergien.
«Auf der einen Seite profitiert Arbeitsintegration Schweiz von Fachwissen aus erster Hand über die arbeitsmarktnahe Eingliederung; auf der anderen Seite gewinnt CRIEC an Sichtbarkeit und Legitimität.»
Welche Hauptziele verfolgt die Fachkommission ganz allgemein?
Morgane Kuehni: Die CRIEC ist in erster Linie ein Ort der Diskussion und Begegnung, der den Fachaustausch zwischen Fachpersonen aus der Westschweiz fördern soll. Um diese Aufgabe zu erfüllen, haben wir uns zum Ziel gesetzt, thematische Treffen zu organisieren, die sich mit der arbeitsmarktnahen Eingliederung befassen. Zweitens will CRIEC die verschiedenen Interessengruppen, darunter politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, für bestimmte aktuelle Herausforderungen im Bereich der arbeitsmarktnahen Eingliederung sensibilisieren. Ziel ist es, die Anliegen des “Terrains” zu dokumentieren und über die Herausforderungen zu informieren mit denen die Fachkräfte oder die teilnehmenden Personen konfrontiert sind. Schliesslich möchten wir den Austausch auf nationaler und internationaler Ebene dynamisieren, indem wir die Interaktionen innerhalb der Gemeinschaft und mit den professionellen und akademischen Netzwerken, die in diesem Bereich aktiv sind, verstärken.
Welches sind derzeit die grossen Herausforderungen für die arbeitsmarktnahe Eingliederung?
Morgane Kuehni: Das ist eine grosse Frage! Es ist nicht einfach, sie kurz und bündig zu beantworten, denn sie hängt vom Standpunkt ab, von dem aus man sie betrachtet. Zunächst einmal gibt es auf politischer Ebene keinen wirklichen Konsens: Was soll mit der arbeitsmarktnahen Eingliederung erreicht werden? Eine Rückkehr in den regulären Arbeitsmarkt oder in einen subventionierten Arbeitsplatz, der es ermöglicht, unter anderen Bedingungen als denen des Marktes zu arbeiten? In der Schweiz existieren heute mehrere Modelle nebeneinander.
Wenn man die Perspektive der Organisatoren und Organisatorinnen von Massnahmen einnimmt, sind die Herausforderungen der Finanzierung besonders hervorzuheben. Sozialunternehmen basieren auf einem gemischten Geschäftsmodell mit einer Finanzierung, die vom Markt und von staatlichen Subventionen kommt. Die Bedingungen für die finanzielle Unterstützung variieren je nach Kanton, den betroffenen Zielgruppen (Sozialhilfe, Arbeitslosigkeit, Invalidenversicherung) oder auch der wirtschaftlichen Situation, z. B. der Arbeitslosenquote. Hinzu kommen weitere organisatorische Herausforderungen, insbesondere der Wettbewerb zwischen den Organisatoren und Organisatorinnen von Massnahmen, das wirtschaftliche Konkurrenzverbot oder auch das Profil der betreuten Zielgruppen und die Art des vom Staat erteilten Mandats.
Für die Fachkräfte im Bereich der Eingliederung sind die Herausforderungen noch anders gelagert, da sie zwei Ziele verfolgen. Einerseits geht es darum, Güter und Dienstleistungen zu produzieren, die auf dem Markt verkauft werden müssen, und andererseits darum, die “Arbeitsmarktfähigkeit” von Personen, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, zu begleiten und/oder zu stärken. Diese Menschen befinden sich mitunter in sehr komplexen Situationen, einige haben viele Erwartungen und andere viele Ängste. Für die Fachpersonen∙der Eingliederung ist der Mangel an Ressourcen und insbesondere der Zeitmangel eine entscheidende Herausforderung. Tatsächlich sind die Massnahmen häufig zeitlich begrenzt (3, 6 oder 12 Monate) und werden in einigen Fällen bewertet, z. B. auf der Grundlage einer Wiedereingliederungsquote.
«Es ist eine echte Jonglierarbeit, die in diesem Zeitraum in Gang gesetzt wird, zwischen den Aufgaben der Begleitung, der Ausbildung, der Akquise von Arbeitsplätzen oder auch dem Verfassen von Berichten für die Mandatsträger.»
Für die Leistungsempfänger stehen noch einmal andere Herausforderungen im Vordergrund. Sie arbeiten unter Bedingungen, die sich meist von denen des Marktes unterscheiden, was Arbeitsverträge, Bezahlung, Karriereaussichten und im weiteren Sinne die Anerkennung ihres Engagements betrifft. Die Statusfragen sind meist wichtig: Bin ich wirklich ein/e Arbeitnehmer/in wie ein/e∙andere/r, wenn meine Arbeitsbedingungen so unterschiedlich sind? Die Antwort ist nicht einfach und die Erfahrungen sind je nach Situation sehr unterschiedlich. Auf der negativen Seite steht das Gefühl der Ausbeutung und die Gefahr der Stigmatisierung, auf der positiven Seite das Gefühl der Nützlichkeit und Zugehörigkeit, der Tagesstruktur, des Lernens usw.
Was wünschen Sie sich für die zukünftige Entwicklung dieser Fachkommission?
Yves Ecoeur: Zum einen möchte ich den Kreis der CRIEC erweitern und diversifizieren, indem wir andere Westschweizer Akteure und Akteurinnen der arbeitsmarktnahen Eingliederung einbeziehen. Einige Westschweizer Kantone sind noch nicht in der Kommission vertreten. Andererseits bin ich der Meinung, dass ein Dialog mit anderen gleichartigen Organisationen in der Deutschschweiz aufgenommen werden sollte. Wie in vielen Bereichen in der Schweiz leben wir nebeneinander, aber ohne ausreichenden Dialog. In dieser Hinsicht leistet Arbeitsintegration Schweiz eine sehr gute Arbeit, um den Austausch zwischen den Akteuren und Akteurinnen der Eingliederung zu fördern.
Ich wünsche mir, dass wir durch Arbeitsintegration Schweiz die legitime Stimme der arbeitsmarktnahen Eingliederung gegenüber den Entscheidungsträgern und Entscheidungsträgerinnen auf der Ebene der Verwaltung und der Politik verkörpern. Schliesslich muss ein Dialog mit den Hochschulen entwickelt werden, um die aktuellen Praktiken zu evaluieren und die Akteure anzuregen, unter Berücksichtigung der globalen Grenzen neue Instrumente der arbeitsmarktnahen Eingliederung zu schaffen.